Sozial Benachteiligte in ländlichen Peripherien in Ostdeutschland und Tschechien: doppelt erschwerte Bedingungen für die Alltagsbewältigung?
Seit einigen Jahren stehen ländliche Regionen verstärkt im Fokus politischer und medialer Diskurse. Erzählungen über eine (tatsächlich oder vermeintlich) wachsende Kluft zwischen „Stadt“ und „Land“ und über Orte (und Menschen), die „abgehängt“ werden, fanden in wissenschaftlichen Untersuchungen ein kritisches Echo (z.B. McKay 2019; Deppisch/Klärner 2021). Ländliche Peripherien gelten als besonders betroffen von unterschiedlichen Formen von Benachteiligungen, darunter ein Mangel an und eine schlechte Erreichbarkeit von öffentlichen und privaten Dienstleistungen, eine schwache Wirtschaftsstruktur sowie negative demografische Veränderungen, wie die Abwanderung jüngerer und besser ausgebildeter Menschen und der nachfolgende Rückgang und die überdurchschnittliche Alterung der Bevölkerung (Commins 2004). Strukturelle Probleme ländlicher Peripherien sind nicht neu und werden in der Regionalforschung und in Studien über ländliche Räume schon seit geraumer Zeit diskutiert (z.B. Heintel 1998). Mit dem Konzept der Peripherisierung ist es gelungen, dem Prozesscharakter benachteiligender Faktoren solcher Regionen und ihren Interaktionen mit den Zentren, aber auch der Möglichkeit sich ändernder struktureller Rahmenbedingungen stärker gerecht zu werden (z.B. Beetz 2008, Kühn/Weck 2013).
Es wurde bisher jedoch kaum empirisch untersucht, wie die Bewohner:innen ländlich-peripherisierter Regionen in ihrem Alltagshandeln mit den strukturellen Benachteiligungen in solchen Räumen umgehen und wie sie diese wahrnehmen (vgl. aber Bernard et al. 2016; Born 2009; Steinführer et al. 2014; Cotter 2002). Diese Forschungslücke für ländliche Räume ist erstaunlich angesichts der umfangreichen Literatur zum urbanen Pendant der Peripherisierungsdebatte: den Forschungen zu Segregationsprozessen und den Auswirkungen benachteiligter Quartiere auf das Leben und die Aufstiegschancen von Großstadtbewohner:innen (z.B. van Ham et al. 2011). Darüber hinaus stehen insbesondere sozial benachteiligte Gruppen selten im Mittelpunkt von Forschungsprojekten in ländlichen Regionen – diese können in der Landforschung somit mit einigem Recht als „Minderheiten“ bezeichnet werden.
Mit sozial benachteiligten Bewohner:innen ländlicher Peripherien beschäftigte sich das 2018 bis 2022 von der tschechischen Forschungsförderagentur Grantová agentura und der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanzierte Forschungsprojekt „Soziale Benachteiligung in ländlichen Peripherien in Tschechien und Ostdeutschland: Gelegenheitsstrukturen und individuelle Agency in vergleichender Perspektive“ (Keim-Klärner et al. 2021). Im Mittelpunkt stand die Frage nach dem Zusammenwirken struktureller räumlicher Probleme und sozialer Ungleichheiten in Bezug auf die individuelle Alltagsgestaltung. Im Folgenden werden die konzeptionellen Grundlagen, das methodische Vorgehen, insbesondere zur Frage der Rekrutierung sozial benachteiligter Interviewpartner:innen, und schlaglichtartig einige Befunde dieser Studie vorgestellt. Dabei interessiert uns insbesondere, ob sich soziale und räumliche Benachteiligungen akkumulieren und ob sich sozial benachteiligte Gruppen in ländlichen Peripherien mit doppelt erschwerten Bedingungen für ihre Alltagsbewältigung konfrontiert sehen.
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